Abstandhalter Abstandhalter Abstandhalter

hintergrund
hintergrund
Home link | Archiv (Produktionen bis 2010) link | Impressum link
Abstandhalter hintergrund




Bertolt Brecht
FURCHT UND ELEND DES DRITTEN REICHES


Premiere: Januar 2007, TASCH

Fotos link |

Besetzung:
Inszenierung -
Ausstattung -
Dramaturgie -

Regieassistenz -
Soufflage -
David Gerlach
Axel Pfefferkorn
Michael Pietsch

Juliane Nowak
Bernd Kruse
FURCHT UND ELEND DES DRITTEN REICHES

Darsteller:
Juliane Beier | Juliane Nowak | Joanna-Maria Praml | David Gerlach | Jürgen Helmut Keuchel | Bernd Kruse | Stefan Piskorz | Carl Pohla
ab Spielzeit 2007/08: Franziska Knetsch für Praml, Regina Leitner für Beier und Nicolas Deutscher für Pohla

Technische Leitung - Fred Bielefeldt | Beleuchtung - Dennis Jagusiak | Requisite - Margarita Belger | Maske - Grit Anders | Inspizienz - Ito Grabosch | Ton - Ronald Strauß | Garderobe - Elisabeth Müller | Schneiderei - Eva Nau, Kathleen Gröb, Gisela Schmidt, Claudia Siebenborn

Stück:

Wie verändert Faschismus die Menschen?

Eine Szenenfolge als Zeitdokument, unterschiedliche Episoden über den Alltag im Nationalsozialismus, eine Zwischenbilanz nach fünf Jahren Nazi-Herrschaft. Über den Terror durch reglementierende Sprachverwirrung, durch Misstrauen, Heuchelei und Unterdrückung.

Fünf ausgewählte Szenen aus Brechts zwischen Juli 1937 und Juni 1938 entstandener 27-Szenen-Montage zeigen beispielhaft, wie die nationalsozialistische Gesinnung unablässig auch in die privaten Bereiche der Familien eindringt und fügen sich zu einem Bild über die alltäglichen Mechanismen in Nazideutschland vor dem 2. Weltkrieg. Die 'Banalität des Bösen' erreicht neben den Opfern auch die Täter schon lange vor Krieg und Holocaust. So bildet die im August 1937 erstmals veröffentlichte Szene „Die jüdische Frau" den Rahmen für vier weitere Einblicke in den Alltag der 'Tätergesellschaft'.


Pressestimmen:

Montag, 12. Februar 2007
Marburger Neue Zeitung (von Sonja Lecher)

„Ich habe Hitler gewählt“
„Furcht und Elend es Dritten Reiches“ hat Premiere

Marburg. In kaltes und steriles Licht gehüllt strahlt die Bühne den Zuschauern entgegen und stimmt auf knapp zwei Stunden Auseinandersetzung mit dem Leben im Nationalsozialismus ein: Vor ausverkauftem Haus hat die Inszenierung des Hessischen Landestheater von Bertold Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ eine erfolgreiche Premiere im Theater am Schwanhof erlebt.

Sechs Szenen aus Brechts ursprünglich 27 Szenen umfassessenden Theaterstück führte das achtköpfige Ensemble in der Inszenierung von David Gerlach auf: Die lose Folge von Alltagszenen ist eine Materialsammlung von Pressemeldungen und Augenzeugenberichten über Alltagsereignisse im Deutschland des Nationalsozialismus, die Brecht und Margarete Steffin ab den Jahren 1934/35 sammelten. Anhand der Montage bietet Brecht einen Einblick in die waren Verhältnisse im Nazideutschland, die über allem schwebende Kriegsgefahr und die antifaschistischen Bewegungen. Mit Glückwünschen überschütten die acht Akteure szenierung. Sie gehen in die Zuschauerreihen und schütteln Hände. Danach geht jeder seiner Tätigkeit nach – Kochen, Nähen, Schuhe putzen. In den vorwiegend weißen Gegendständen scheinen die Darsteller in ihren ebenso farblosen Kleidungsstücken zu verschwinden. Nur eine Frau ist in ein rotes Kleid gekleidet – sie ist Jüdin. Plötzlich friert die Handlung ein: Die Frau in Rot (Juliane Beier) beginnt zu telefonieren. Sie will aus Deutschland fliehen. Als roter Faden ziehen sich ihre immer verzweifelter werdenden Telefonate durch die Handlung der Szenenmontage bis sie in einem dramatischen Monologmünden, die die Zerrissenheit der jüdischen Frau zwischen Ehe und Verfolgung aufzeigt („Die jüdische Frau“): „Reden wir nicht von Unglück, reden wir von Schande“. Ohne Pause stehen die Darsteller Juliane Beier, Juliane Nowak, Joanna-Maria Praml, Jürgen Helmut Keuchel , Bernd Kruse, Stefan Piskorz, Carl Pohla und der Regisseur David Gerlach in den Szenen „Die Stunde des Arbeiters“, „Das Kreidekreuz“, „Rechtsfindung“ , „Die Internationale“ und „ Der alte Kämpfer“ auf der Bühne. Als Handelnde Akteure oder als stumme Zuschauer am Bühnenrand, die jederzeit als Zeugen in die Handlung hineingezogen werden können. „Die Einen horchen, die Anderen schweigen“. Sie sind die personalisierten „Wende mit Ohren“, auf die Brecht in einer Textstelle hinweist: die Allgegenwärtige Gefahr, sein Meinung nicht mehr frei äußern zu können. Ständige Provokation und die Tricks der SA zu Denunzierungen sind der Mittelpunkt in „Die Stunde des Arbeiters“ und „Das Kreidekreuz“, in der sich Carl Pohla als SA-Mann und Stefan Piskorz als Arbeiter gegenseitig auf die Probe stellen. Auch die Rolle der Justiz ist Bestandteil der Inszenierung: nach dem Motto „Recht ist, was dem deutschen Volke nützt“ gerät ein Richter (Jürgen Helmut Keuchel) unter Druck um Manipulation und kommt zu dem Schluss „Es gibt keine Justiz mehr“. Konzentriert und bewegungslos folgre das Premierenpublikum den Darstellungen des Ensembles, das zu Teil distanziert, teils mit heftigen Gefühlsausbrüchen agierte. Knallende Pistolenschüsse du ohrenbetäubendes Glockenläuten riss die Zuschauer aus der Anspannung, die sich beim Schauen aufbaute. Erst nach dem Schlusssatz des denunzierten Fleischers „Ich habe Hitler gewählt“ entlud sich die Spannung der Zuschauer in lang anhaltendem Applaus.


Oberhessische Presse 11. Februar 2007

Theater Furcht und Elend: Niemand sagt etwas, aber alle hören zu

Marburg. Das menschliche Dilemma von Tätern und Opfern im Hitler-Deutschland zeigt Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches.“

von Carsten Beckmann

Adolf Hitlers Sportpalastrede krächzt aus dem Off, und Regisseur David Gerlach lässt sein Ensemble Hände schütteln – mit dem Premierenpublikum, das von Anfang an verstehen soll: Die da auf der Bühne, das könnten wir sein, wenn wir denn in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gelebt hätten.

5 der 27 Brechtschen „Furcht und Elend“-Szenen waren avisiert für die Marburger Inszenierung, doch im Wesentlichen konzentriert sich die Spielhandlung auf drei Stränge:

auf das Schicksal der jüdischen Arztgattin Judith, die ihren Mann verlässt, um ihn nicht zu kompromittieren, die Geschichte des alternden Richters (Jürgen Helmut Keuchel), der nach dem Überfall dreier SA-Leute auf einen jüdischen Juwelier Recht zu sprechen hat sowie das „Kreidekreuz“: Hier trifft ein bis über beide Ohren braun verblendeter junger SA-Mann auf die Dienerschaft der „Herrenrasse“.

Schneidig, schnoddrig, schauderhaft treibt Carl Pohla im Braunhemd sein infames Spiel mit dem Regime-Zweifler (Stefan Piskorz), und am Ende weiß nicht einmal mehr die Braut des Jung-Nazis, ob der nicht selbst sie denunzieren würde, wenn es die nationale Lage erforderte.

Kein Vorhang trennt die Zuschauer vom Bühnengeschehen im Theater am Schwanhof, die Nähe des Betrachters zum Geschehen war Gerlach ebenso wichtig wie die permanente Präsenz aller Schauspieler.

Die Ohren haben Wände, Spitzel oder Denunziant kann jeder sein: Niemand, so beklagt die Jüdin Judith (Juliane Beier) sinngemäß, sage etwas, aber alle hören zu.

Dass die als Rahmen der gesamten szenischen Montage dienende „Jüdische Frau“ zum wohl bewegendsten Handlungsfaden des Abends wird, ist eindeutig ein Verdienst Juliane Beiers, die ihr Gefühlsleben bereits lange vor ihrer eigenen Abreise ins Exil geschickt hat. Scheinbar distanziert und teilnahmslos organisiert sie den Alltag für den Mann, den sie verlassen wird.

Dass sie beim Kofferpacken einen Haufen gelber Judensterne auf dem Bühnenboden hinterlässt für all jene, die – anders als sie selbst – im Reich bleiben, ist eines der klug, aber sparsam eingesetzten Ausstattungs-Details, für die sich Axel Pfefferkorn entschied. Jürgen Helmut Keuchel wird die Robe zum Gefängnis: „Ich bin zu jeder Rechtsbeugung bereit, wenn ich nur wüsste, welche gerade verlangt wird“, sagt der Richter, für den die Buchstaben des Strafgesetzes längst nicht mehr alleinige Richtschnur sind, sondern vielmehr die Interessen und Einflussmöglichkeiten der Prozessbeteiligten.

Die „Rechtsfindung“ zeigt in höchst absurdem Maß die Kapitulation des deutschen Justizwesens vor der Allmacht des nationalsozialistischen Apparats.

Zwischen trotteliger Gleichgültigkeit, blankem Opportunismus und schlichter Feigheit platziert Keuchel die Figur des Richters – und verweist damit auf jene menschlichen Charakterdefizite, die neben der ideologischen Verblendung den Wahnsinn des Dritten Reiches ermöglichten.

Weil er sich weigerte, Pappmaché-Schinken ins Schaufenster zu hängen und weil ihm nachgesagt wird, er habe auf dem Schwarzmarkt Fleisch von Juden gekauft, wird ein Metzger in den Freitod getrieben. „Ich habe Hitler gewählt“ steht auf dem Schild um seinen Hals, der in der todbringenden Schlinge steckt. Mit dem „alten Kämpfer“ endet die Marburger „Furcht und Elend“-Inszenierung.

Sie endet im logisch-symbolträchtigen Dunkel, mit beklemmenden, schwarzen Momenten, in denen niemand im Publikum weiß, ob Applaus jetzt das geeignete Mittel ist. Erst, als die Schauspieler wieder im Licht stehen, gibt es dosierten, aber lang anhaltenden Beifall für eine konzentrierte Leistung des achtköpfigen Ensembles.


Marburger Forum

Das Hessische Landestheater Marburg

Bertolt Brecht: Furcht und Elend des Dritten Reiches

Die Inszenierung hervorragend, die schauspielerische Leistung eindrucksvoll – ein bemerkenswerter Abend also, diese Premiere am 11. Februar 2007, ganz und gar dazu angetan, Brecht aus jener altbackenen Starre, in der sich seine Stücke oftmals für den modernen Menschen befinden, zu lösen, seiner Absicht aufzurütteln, zu demaskieren, neues Leben einzuhauchen und seine Worte erneut mit Brisanz zu versehen.

Von 24 Szenen, die Bertold Brecht im Dänischen Exil schrieb und aneinander montierte, um in einer Enthüllungsschau die Verhaltensweisen von Opfern und Tätern während des NS-Regimes zu präsentieren, inszenierte David Gerlach sechs. Im Gegensatz zu Brecht jedoch, der eine fortlaufende Handlung ablehnte, um keine dramatische Entwicklung zu provozieren, stand dies genau in der Absicht der Marburger Inszenierung. Denn obgleich die ausgewählten Szenen innerhalb des brechtschen Kaleidoskops von Lüge, Verrat und Mißtrauen nicht in unmittelbarer Nähe stehen, gelangen nahtlose Übergänge, und durch das perfekt aufeinander ausgerichtete Agieren der Schauspieler flossen alle Szenen ineinander und schufen so ein den Eindruck eines Ganzen. Ein Montage-Stück beugt sich dem Zeitgeist: Globalisierung und Vernetzung des 21. Jahrhunderts haben uns längst die unausweichliche Verquickung und Verwirrung aller Handlungen und Ereignisse erkennen lassen. Brecht stellte 1938 die Frage, wie der Nationalsozialismus den Menschen verändert hat – und wir, die Zuschauer, müssen uns eingestehen – es geht hier nicht nur um den Menschen jener Zeit, denn die Momente menschlichen und gesellschaftlichen Versagens sind heute noch greifbar: das Versagen der Justiz, die Machtspielchen eigentlich bedeutungsloser Handlanger, die hysterische Fröhlichkeit derjenigen, die fürchten Opfer zu werden, ihr Selbstbetrug, ihre Verzweiflung.

Somit war es eine geschickte Wahl, die David Gerlach bei der Auswahl der sechs Szenen getroffen hatte: Eingeleitet durch „Die Stunde des Arbeiters“ – die durch Musik und Radio verfremdete Inszenierung eines phrasendreschenden Radioreporters - setzte sich das Spiel fließend fort mit „Das Kreidekreuz“, in der sich ein SA-Mann brüstet, wie er Querulanten, Andersdenkende und Gegner provoziert und denunziert, dann mit der Szene „Rechtsfindung“, die zeigt, wie ein Richter zu jeder Rechtsbeugung bereit ist „...wenn er nur wüßte, welche gerade verlangt wird“; und schließlich der Szene vom „alte(n) Kämpfer“, der sich nicht nur aus Furcht, sondern auch, weil er den Fehler beging, Hitler zu wählen, schließlich in seinem eigenen Schaufenster erhängt. Umschlossen wiederum werden sämtliche Szenen durch die diversen Telefonate, welche „Die jüdische Frau“ führt, – einer „kleinen Reise“ willen: Indem sie sich weigert von den wahren Gründen zu sprechen, versucht sie standhaft ihrer Angst keinen Raum zugeben. Erst zum Schluß bricht sie zusammen. Dieser Zusammenbruch gehörte wohl zu den beeindruckendsten Momenten des Abends. Als „jüdische Frau“ weinte Juliane Beier auf offener Bühne die Tränen der Ohnmacht vor einem menschenverachtenden und allmächtigen System, packte sie ihren Koffer, aus dem sie in symbolhafter Andeutung, dass ihr Schicksal nur eines von vielen ist, gelbe Stoffsterne, Judensterne, zu Mengen holte, um sie in wirrer Verzweiflung auf dem Boden zu verstreuen.

Doch nicht nur sie allein beherrschte ihre Rolle. Die ratlose – rückgratlose Haltung ihres Mannes, gespielt von Stefan Piskorz, ergänzte Beiers Spiel perfekt; beider Verzweiflung wurde vorbereitet durch die Besorgnis, in sich der Richter, Jürgen Helmut Keuchel, hineinsteigerte, als er, sich wie ein Aal hin- und herwindend, seine Meinung mal in diese, mal in jene Richtung wendend, versuchte, guten Gewissens Unrecht zu begehen. Genauso erwies sich Carl Pohla in seiner Rolle als NS-Mann und durch und durch widerliches Subjekt, das bühnenwirksam die anderen Akteure bedrängte, als überzeugend. Das Griffige und Ineinandergreifende der Inszenierung ergab sich nicht zuletzt auch durch das Bühnenbild: grau wie die Seele der Menschen – sei es aus Angst, sei es aus Unterwürfigkeit vor dem System –, der Hintergrund mit einem überdimensionierten Hakenkreuz versehen; die Schauspieler selbst bauten die Bühnenausstattung mit wenigen Griffen um, aus dem Tisch wurde eine Tür, aus der Sitzbank in der Küche, eine Zeugenbank, schließlich ein Müllberg.

Keiner der acht Agierenden verließ in der 100minütigen Aufführung diese Bühne – entweder spielten sie, oder saßen wie Zuschauer in einem Gerichtssaal, saßen als Zeugen zu Gericht über das, was Brecht zu recht „Deutschland – ein Greulmärchen“ genannt hatte. Zuletzt auch fällten sie, ein Chor von acht Schauspielern, ihren Urteilsspruch, mehr eine Mahnung, ein Resümee: Daß jedwede Form der Anpassung als Versuch, sich aus dem Geschehen herauszuhalten, zu nichts anderem führt als Mitläufertum und damit der Erhaltung eines Systems der Unterdrückung. Die großartig dargestellte Fragwürdigkeit von Urteilen, Wort und Tat, Verleumdung, Mißtrauen und Gerücht, hat Brecht an diesem Abend aus seinem Denkmalcharakter endlich erwachen lassen.

Tanja von Werner


MarburgNews

Furcht und Elend: Auf der Bühne der Geschichte

Auf der Bühne thronte ein überdimensionales Hakenkreuz. Eine knarzende Stimme verkündete über die Lautsprecher die Machtergreifung Adolf Hitlers. Die Darsteller stürmten ins Publikum und gratulierten mit Händedruck zum politischen Erfolg.

Mit dieser Szene begann am Samstag (11. Februar) und Sonntag (12. Februar) die Premiere von "Furcht und Elend des Dritten Reiches". Das Hessische Landestheater Marburg führte das Stück von Bertolt Brecht an beiden Tagen vor jeweils knapp 100 Besuchern im Theater am Schwanhof (TASCH) auf. Etwa 100 Minuten lang versuchte Regisseur David Gerlach, die von Brecht beschriebene Alltäglichkeit im Nationalsozialismus szenisch umzusetzen. Eine feststehende Handlung mit den entsprechenden Figuren, die dem Zuschauer durchs Stück helfen, gab es nicht. Vielmehr wurden die Auswirkungen des faschistischen Terrors in unter-schiedlichen gesellschaftlichen Bereichen anhand von sechs Szenen-Fragmenten beschrieben.

Da war zum Beispiel der SA-Mann Theo. In seiner Uniform wirkte er sehr stark und offiziell. Zuerst lieferte er sich ein Wortgefecht mit einem Arbeiter und versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. In einer Atmosphäre aus ständiger Angst und Verzweiflung spürten die Betroffenen, wie sehr sie dem Terror ausgeliefert sind. Wenig später musste Theo seiner Freundin erklären, dass er das gemeinsame Sparbuch leer-geräumt hatte, weil er die SA-Uniform bezahlen musste. Als er auf ihre Vorwürfe wutschnaubend und tobend reagierte, wurde deutlich, in welchem Ausmaß sich der Terror aus der kleinbürger-lichen Perspektivlosigkeit und der sozialen Angst nährte. In einer anderen Szene traute sich ein eingeschüchterter Amtsrichter nicht, die Schuldigen schuldig zu sprechen. Vor der Urteilsverkündung fragte er sich verzweifelt - zwischen den Fakten hin und her gerissen und in Panik -, welches Urteil wohl im Interesse der Herrschenden liege. Noch vor der Urteilsverkündung grenzten sich seine Kollegen von ihm ab. Die Abschluss-Szene ist die Geschichte eines Fleischers, der auf dem Schwarzmarkt bei einem jüdischen Mitbürger Fleisch gekauft hatte. Dafür wurde er von der SA in seinem Laden aufge-hängt. Um seinen Hals trug er ein Schild, auf dem stand: "Ich habe Hitler gewählt!"

Brecht hat "Furcht und Elend" in 27 Szenen zwischen Juli 1937 und Juni 1938 geschrieben. Bereits 1934 und 1935 hatte er mit Margarete Steffin Pressemitteilungen und Augenzeugen-berichte zu einer Materialsammlung zusammengestellt. Einige Jahre später schließlich erfolgte die künstlerische Umsetzung zu einer Montage aus verschiedenen Szenen-Fragmenten.

Regisseur Gerlach hat sechs wichtige Szenen ausgewählt und zu einem roten Faden zusammengeknotet. Das Gespräch über die SA, die sich ausbreitende, überall spürbare Angst vor ihrem Terror und schließlich das Miterleben des Terrors markieren die einzelnen Stufen des deutschen Nationalsozialismus. Eine besondere Dramatik erhält die Inszenierung durch immer wieder eingespielte Protokoll-Mitschnitte des Auschwitz-Prozesses. Ehemalige Häftlings-Aussagen über den Terror in den Konzentrationslagern verbinden einen Teil der Szenen miteinander und spinnen den roten Faden noch weiter.

Insgesamt ist dem Regisseur eine gute Inszenierung gelungen. Mit Johanna-Maria Praml, Carl Pohla, Jürgen Helmut Keuchel und Stefan Piskorz zeigte er viel Gespür für eine hervorragende Besetzung. Zeitweise schlüpfte Gerlach sogar selbst in die Rollen, ebenso wie die Regie-Assistentin Juliane Nowak.

"Furcht und Elend" ist kein Stück, dass mit einem Schlag begeistert. Das ist wohl hauptsächlich der Thematik geschuldet. Doch in einer Zeit, in der unpolitische Hitler-Parodien über die Kino-Leinwände laufen, ist "Furcht und Elend" ein Stück, das gut tut.

(ule)


Giessener Allgemeine

Aus Mitläufern werden Mittäter

Ausgewählte Szenen aus Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reiches« am Hessischen Landestheater Marburg

Es zählt nicht gerade zu seinen stärksten Stücken: Bertolt Brechts Sammlung von 27 Szenen, die er im Exil von Juli 1937 bis Juni 1938 nach Pressemeldungen und Augenzeugenberichten verfasste, um mit dieser Montage von »Furcht und Elend des Dritten Reiches« schlaglichtartig zu berichten. Sechs dieser Szenen hat Regisseur David Gerlach jetzt für seine Inszenierung am Hessischen Landestheater in Marburg ausgewählt – eine Produktion, die sich ausdrücklich auch an Jugendliche ab 14 Jahren richtet, dann jedoch in dieser Form unbedingt einer Vor- und Nacharbeitung im Unterricht bedarf.

Hitler knarzt aus den Lautsprechern, das Hakenkreuz prangt an der Rückwand aus Stoff (Ausstattung: Axel Pfefferkorn), schneidig und adrett präsentieren sich die acht Mitspieler, die Gerlach – er ist einer von ihnen – von Anfang an auf der offenen Bühne im Theater am Schwanhof versammelt hat. Einzeln oder in Gruppen treten sie hervor, um schonungslos Täter und Opfer des deutschen Volkes aus jenen unrühmlichen Zeiten zu skizzieren. Szenen von unterschiedlicher Qualität und Intensität, die vor allem aber eines auslösen: Beklemmung.

Wie weit die »Rechtsfindung« im Dritten Reich ging, macht Jürgen Helmut Keuchel als Amtsrichter in Nöten deutlich. In einem heiklen Fall weiß er am Ende schwitzend und windend wie ein Aal nicht mehr, in welcher Richtung er das Recht beugen soll, um nicht den Falschen auf die Füße zu treten. »Ich bin ja zu allem bereit…, aber ich muss doch wissen, was man verlangt«, ruft er verzweifelt aus.

Hanebüchene Hilflosigkeit nicht nur bei der Obrigkeit, auch beim einfachen Volk macht sich Misstrauen aller Orten breit. Im »Kreidekreuz« kann und will das korrekte Dienstmädchen von Joanna-Maria Praml ihrem Verlobten – zackig und mit großem Mundwerk: Carl Pohla als kleiner SA-Mann – nicht mehr trauen, nachdem sie miterlebt hat, wie ihr Freund einen Arbeitslosen (Stefan Piskorz) provokativ auf die Probe gestellt hat. Die Grenzen verschwimmen, aus Mitläufern werden Mittäter.

Besonders eindringlich aber zeichnet Juliane Beier »Die jüdische Frau«, die – schon lange nichts Gutes ahnend – ihren arischen Mann verlassen will, um sich und ihn zu schützen. In dem langsamen, schmerzvollen Abschiednehmen fingert sie immer wieder nervös am Telefon, und ihr Koffer voller gelber Sterne offeriert die gebührende symbolische Kraft.

Marion Schwarzmann



 ©2000 - 2024 powered by roware.net link